Jeden Monat
eine neue
Kurzgeschichte
Ich veröffentliche hier jeden Monat
eine neue Story aus meinem Buch
“halb angekommen”.
Das Buch wird ab dem 01.03.2025
in einer limitierten Auflage hier
bestellbar sein.
Van Gogh starb mit 37 an einem Schuss in die Brust, den er sich zwei Tage zuvor auf einem Feld, in einem unbedeutenden französischen Dorf im Norden Frankreichs wahrscheinlich selbst zugefügt hatte. Es muss ein schmerzhafter, grausamer, elendiger Tod gewesen sein. Sein jüngerer Bruder Theo, der ihn sein Leben lang finanziell durchgebracht hatte, schaffte es gerade noch an sein Totenbett. Van Gogh war Alkoholiker, verwahrlost, von den eigenen Eltern missachtet, hatte die meisten Zähne verloren und litt unter Halluzinationen und epileptischen Anfällen. Knapp ein Jahr zuvor schnitt er sich sein Ohr ab, brachte es der Lieblings-Prostituierten seines Stammbordells mit der Bitte, es für ihn aufzubewahren. Sie wurde ohnmächtig. Für viele ist diese Geschichte der Inbegriff dafür, dass Genialität und Wahnsinn nah beinander liegen. Kurze Zeit darauf wurde er der Stadt verwiesen und endete in einer Nervenheilanstalt. Zu Lebzeiten verkaufte van Gogh nur ein einziges Bild für einen lächerlichen Preis. Die Pariser Kunstszene sah kein Talent. Der Wahnsinn wurde ihm bescheinigt, die Genialität nicht.
Am 9. November 2022 wurde van Goghs 'Obstgarten mit Zypressen' für 117.180.000 Dollar verkauft. Das Gemälde zeigt die Winterlandschaft von Arles, 1888. Van Gogh war hierhergezogen, um im goldenen Licht von Südfrankreich zu malen und sich für viele Hunderte Landschaftsbilder inspirieren zu lassen. Er träumte von einer Künstler-gesellschaft mit einer Vereinigung für Maler. In dem Studio, das er dafür mietete, hängte er seine berühmten Sonnenblumen auf. Einer der wenigen Künstler, die ihn dort tatsächlich besuchten, Paul Gauguin, empfahl ihm diese Bilder nicht zu verkaufen. Sie seien zu schön und er solle sie für sich behalten.
Im September 2023 erreiche ich Arles. Ich fahre durch die engen, wunderschönen, alten Gassen, parke direkt vor meinem Hotel 'L’Arlatan' und gebe meine Koffer ab. Das Hotel, die Schönheit der Stadt, die Farben des Lichts und die ersten warmherzigen Eindrücke der Menschen in der Stadt übertreffen meine Erwartungen. Ich fühle mich wohl und denke, dass ich hier perfekt den Zweck meiner Reise erfüllen kann: endlich meine Kurzgeschichten zu schreiben und vielleicht noch einige Ideen für etwas Neues zu gewinnen.
In den ersten beiden Tagen lasse ich es mit dem Schreiben ruhig angehen. Ich wusste nicht, dass zur Zeit meines Besuches das 'Les Rencontres d‘Arles' stattfindet. Ein Fotofestival, mit den besten internationalen Fotografen. In allen Ecken der Stadt gibt es Expositionen. Ich tanke Inspiration. Das ist gut. Auch die Einsamkeit stört mich nicht. Ich merke, dass wenn man allein unterwegs ist, Gedanken in einem hochkommen, die sehr tief verborgen sind. Das ist, als wäre man dauerhaft in einer psychologischen Sprechstunde mit sich selbst. Arles ist kein Party Ort. Ich kann hier auch nicht in eine Bar gehen, mich betrinken und auf eine Liaison hoffen. Stören tut mich das nicht.
Am dritten Tag bin ich der Ausstellungen müde und lese während des Frühstücks im Reiseführer, was man sonst noch unternehmen könne. Dabei gibt es einen Abschnitt über eine der bedeutendsten Geschichten der Stadt: derer Vincent van Goghs. Ich beschließe die 'Van Gogh Stiftung', die gleich um die Ecke des Hotels liegt, zu besichtigen. Auf dem kurzen Weg werde ich nachdenklich. Ich verspüre eine Abart in dem Kontrast von van Goghs erfolglosem Leben und seiner heutigen Berühmtheit. Warum funktionieren manche Geschichten der Menschheit so? Die aktuelle Schönheit der Stadt ist sicher auch durch van Goghs Werk begründet. Tausende Touristen kommen jedes Jahr nur deshalb hierher.
Meinem Unwohlsein muss ich auf den Grund gehen. In der Van Gogh Stiftung gibt es immerhin fünf Originale. Ich stelle mich vor jedes Gemälde und frage mich, ob dies nun wirklich gut sei, oder ob dies auch ein Kind hätte malen können, so wie ich es manchmal bei einigen berühmten Künstlern dachte. Kunst liegt im Auge des Betrachters, aber gleichzeitig glaube ich an gutes Handwerk. Ich versuche ehrlich zu mir zu sein. Schon beim dritten Bild bin ich überzeugt. Das ist verdammt gut. Das ist innovativ. Das ist genial. Die Missgunst in mir, dass dieser Mann nicht verstanden wurde, wird größer. Es trifft mich.
In der Stiftung gibt es einen schönen Museumsshop. Als ich dort ankomme, ist er überfüllt. Eine Horde Touristen drängt sich an den Aufstellern vorbei. Ich blicke über gealterte Schultern auf die Tische, auf denen die Bücher liegen. Ich entscheide mich schließlich für ein autobiografisches Buch mit van Goghs wichtigsten Briefen an seinen Bruder Theo. Sein Leben wird in seinen eigenen Worten erzählt. Dazu kaufe ich ein Poster der Stiftung, mit einem Gemälde, dass die Anstalt aus Saint-Rémy-de-Provence zeigt, in der van Gogh behandelt wurde. Ein wunderschönes Gebäude. Der Kassierer lobt mich auf Französisch: „Bon choix!“
Am Nachmittag liege ich in der Sonne am Pool des Hotels und lese van Goghs Briefe. Meine Umgebung ist wundervoll. Das Design des Hotels ist so einmalig, dass ich nicht aufhören kann Fotos zu machen. Mir sollte es fantastisch gehen, trotzdem fühle ich mich mittlerweile extrem melancholisch. Mir geht unsere Gesellschaft und was für eine riesige Rolle Anerkennung spielt, durch den Kopf. Heutzutage holt man sich diese innerhalb Sekunden auf seinem Social Media Profil.
Genauso schnell ist sie wieder weg. Van Gogh empfand diese Gefühle wohl sein ganzes Leben nicht. Ich frage mich, wieso er überhaupt so lang durchhielt.
Am nächsten Tag beschließe ich, dass ich wieder besser gelaunt sein müsse. Auch die Kurzgeschichten würde ich zu sehr schleifen lassen. Dieser Schwermut verlässt mich aber nicht. Ans Schreiben ist so nicht zu denken. Man würde meinen Trübsinn in den Texten erkennen können. Ich schaue mir zwei Fotoausstellungen an. Auch diese berühren mich nicht mehr. Dann setze ich mich gegen drei Uhr nachmittags auf eine Bank im Schatten einer ruhigen Straße und denke verzweifelt nach. „Was machst du hier eigentlich? Du bist allein unterwegs. Mach doch einfach, was du willst.“ Ich fühlte mich wie entfesselt. Nach den detaillierten Beschreibungen in den Briefen, in denen es so klingt, als wäre van Gogh auf dem Weg der Besserung, musste ich mir die Heilanstalt in Saint-Rémy-de-Provence anschauen.
Den knapp 30 Kilometer weiten Weg fahre ich in meinem Cabrio über die schönen Landstraßen. Die Sonne scheint. Die Landschaft ist malerisch. Nach einer halben Stunde erreiche ich die 'Maison de Santé de Saint-Paul', die Heilanstalt, in der van Gogh knapp über ein Jahr bis kurz vor seinem Tod lebte. Ein wenig aufgedreht gehe ich etwas zu schnell durch den Eingang und werde von einem jungen Franzosen gestoppt, der mich erinnert, dass ich noch ein Ticket kaufen müsse. Natürlich. Ich bezahle und endlich gehe ich direkt dahin, wo es mich ununterbrochen tief in mir hingezogen hatte: in das Krankenzimmer Vincent van Goghs. Der Raum ist gut erhalten. Er ist recht klein, aber genauso wie es in den Briefen beschrieben ist.
„Hinter den vergitterten Fensterscheiben befindet sich ein wundervolles Feld mit Lavendel, Korn und Zypressen“. Van Gogh malte hier weiter und fertigte ungefähr 150 Werke an. Darunter die berühmte 'Sternennacht'. Irgendein Stein fällt mir vom Herzen. An der Wand sind ein paar Tafeln mit Erklärungen. Die Klinik war durchaus renommiert. Trotzdem wird zugegeben, dass hier Praktiken eingesetzt wurden, die heute nicht mehr zeitgemäß sind. Patienten bekamen Mittel, um sich regelmäßig zu übergeben, sie wurden geschröpft, das Blut sollte sich erneuern, damit das verrückte Blut entweiche, kochendes, oder eiskaltes Wasser wurde eingesetzt. Man kann es sich nicht vorstellen. Und trotzdem stellt man es sich vor.
Nachdem ich das Zimmer gesehen hatte, gehe ich durch die alten Gemäuer in den Hofgarten. Als ich die Meterhohen Sonnenblumen sehe, die so aussehen, als hätte van Gogh sie dorthin gezeichnet, bekomme ich ein zweites Mal Gänsehaut. Der Kontrast zwischen dem Paradiesischen und dem Tragischen ist allgegenwärtig.
Bevor ich das Anwesen verlasse, setze ich mich bei der etwas komischen, übermässig großen Statue von van Gogh auf eine Mauer in die Sonne. Ich denke, „du musst zumindest ein gescheites Foto mit dieser Staute machen und es darf kein Selfie sein“. Ich beschließe, die nächsten Touristen zu bitten, mir zu helfen. Eine unangenehme lange Weile tut sich nichts. Verstörte Schreie und komisches Raunen aus dem Nachbargarten. Jetzt realisiere ich, dass sich nur 10 Meter weiter immer noch eine aktive Nervenheilklinik befindet. Wieder eine Kluft zwischen Wahnsinn und Schönheit. Nach einer gefühlten Ewigkeit kommen zwei Touristen vorbei. Ich frage höflich nach dem Bild.
Die beiden sind Amerikaner, aus Portland und natürlich gesprächig wie die meisten Amerikaner. Sie machen das perfekte Bild von van Gogh und mir. Ich mache das perfekte Bild von van Gogh und Ihnen. Wir scherzen noch ein wenig über die Schönheit der Provence. Sie wollen noch nach Arles. Ich gebe ein paar Tipps. Als der Amerikaner auf dem Parkplatz sieht, wie ich in mein Cabrio steige, sagt er: „Nice car, man“. Ich entgegne: „Thank you! Have a nice trip.“ Danach verlasse ich Saint-Rémy-de-Provence.
Auf der Rückfahrt durch die weiten Felder, im goldenen Licht des Spätsommers der Camargue bin ich in Gedanken. Ich erkenne, wie sehr ich selbst von Anerkennung abhängig bin. Dabei habe ich fast alles. Meine Eltern lieben mich, die Familie ist intakt, sie sind stolz auf mich, ich habe einen der beliebtesten Jobs, ein gutes Einkommen, bei vielen Frauen komme ich gut an, ich habe fantastische Freunde, und immerhin sitze ich in einem Porsche Cabrio, fahre durch Südfrankreich und wohne in den besten Hotels der Städte, die ich besichtige. Wenn ich das Gaspedal nur leicht herunterdrücke, surrt der Wagen und ich gleite perfekt durch die Kurven. Der Wind streichelt mein Haar.
Trotzdem bin ich oft unsicher, in Gedanken, habe Selbstzweifel, frage nach dem Sinn des Lebens, habe Ziele, die ich bisher nicht erreichen konnte und habe Sorge um die Gesundheit meiner Liebsten. Die Schnelllebigkeit unserer Generation drückt. Das Gaspedal oft unkontrolliert. Die Fahrt nichtgelassen.
Mich quält der Gedanke, wie van Gogh seinen Misserfolg so lange aushalten konnte. Ich denke mittlerweile, dass ich viel früher verrückt geworden wäre und frage mich, ob ich nicht auch manchmal depressive Phasen habe.
Am Abend bleibt mir nichts anderes übrig, als mich in der Hotelbar zu betrinken, um endlich wieder bessere Stimmung einzuleiten. Ich habe schließlich nicht oft Ferien. Schon die letzen Abende saß ich am Tresen dieser Bar. Die Stimmung ist gut, aber es gibt wenig interessante Gäste. Nur die Barkeeperin, Clementine, ist spannend. Sie ist burschikos, hat einen seltsamerweise gut aussehenden VoKuHiLa, zahlreiche Tattoos am linken Arm, spricht gutes Englisch mit diesem fantastischen französischen Akzent, ist im gleichen Alter wie ich und obwohl, oder gerade weil es nichts Sexuelles ist, verstehen wir uns blendend.
Ich denke, nach dem vierten Drink merkt sie, dass mit mir etwas nicht stimmt. Wir beginnen ein gutes Gespräch. Ich bringe meine Gefühle auf den Tisch. Sie trocknet nebenbei die Gläser und mixt einen Espresso Martini. „Was ist das nur für ein Leben, in dem man so viel Ablehnung erhält? Wie kann man trotzdem so genial sein und so viel Durchhalte-vermögen haben?“ frage ich sie. Dabei lehne ich mit ganzem Oberkörper und den Armen ausgestreckt auf der Bar. Sie lacht und sagt „Du musst nicht so schwermütig sein. Ich denke, das ist simpel. Ein Leben mit Arbeit, die einem viel bedeutet und Freude gibt, kann sehr erfüllend sein. Nicht alles ist Anerkennung und van Gogh ist schon seit über 100 Jahren tot. Vielleicht wäre er gar nicht glücklich damit gewesen zu sehen, was für Menschen nun seine Gemälde besitzen.“
Ich denke damit hatte sie recht. Van Gogh malte in Arles mehrere Gemälde von den berühmten Sonnenblumen.
Eines befindet sich im Privatbesitz eines Milliardärs in den USA.
Eines wurde im Zweiten Weltkrieg durch ein Feuer zerstört.
Fünf weitere hängen in berühmten Museen auf der ganzen Welt. In München, London, Philadelphia, Tokio und Amsterdam. Keines ist hier in Arles.
Der Abend zog hin und am nächsten Morgen war mein Frieden zurück.
In einem Brief an seinen Bruder Theo schrieb Vincent van Gogh, der stets mit dem unverkennbaren Schriftzug Vincent unterschrieb:
„... Ich bin ein Künstler ... diese Worte implizieren naturgemäß ein ständiges Suchen, ohne jemals vollständig zu finden. Es ist das genaue Gegenteil von: Ich weiß es schon, ich habe es schon. Nach meinem besten Wissen bedeuten diese Worte: Ich suche, ich strebe, mein Herz ist darin.“
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Cover Bild illustriert von Julia Stadler
Manchmal trifft man jemanden, der inspiriert, ohne es zu wissen. Timothy Wang begegnete ich zum ersten Mal in Barcelona, als ich dort mit Anfang zwanzig für ein Auslands-semester lebte.
Sieben Jahre später bringt uns das Taxi zum Marina Bay Sands. Man kennt das Hotel. Das ganze Gebäude sieht aus wie ein auf Stelzen stehendes Boot und ziert Postkarten von Singapur. „Lass uns hier schon einmal einen Aperitif trinken“, sagt Timothy, der mittlerweile hier lebt und mich während meiner Asienreise auf einen Zwischenstopp eingeladen hatte.
In der etwas zu gut klimatisierten, weitläufigen Lobby wird man normalerweise zuvorkommend begrüßt. Heute herrscht Hektik. Am Nachmittag haben sich ein asiatischer Diktator und der Präsident einer mächtigen westlichen Nation für ein Treffen angemeldet. Singapur bietet neutralen Grund und vermittelt. Wir umgehen die Sicherheitsleute und gehen zu den Fahrstühlen. Ich wundere mich, dass wir uns hier trotz der hohen Staats-angelegenheit frei bewegen können. Im Fahrstuhl überreicht mir Timothy plötzlich eine Zimmerkarte. Seine Augen funkeln. „Es ist eine Überraschung“, sagt er, „eine, auf die ich mich schon lange gefreut habe. Die Kosten übernehme ich. Ich bin dir einfach dankbar für alles.“
Als ich Timothy in Barcelona kennenlernte, lebte er in einer WG mit acht Mitbewohnern. Eines Abends war ich zu Besuch. Wir wollten bis mindestens Mitternacht bleiben, um die teuren Drinks im Club zu umgehen. Mein spanischer Freund, der seltsamerweise Luigi hieß und auch dort wohnte, hatte mich eingeladen. Er war groß, gutaussehend und hatte den Körper eines Matadors. Ich war gewissermaßen sein dünneres, und etwas kleineres Ebenbild. Zusammen hatten wir es leicht, egal wo wir waren. Gegenwart und Zukunft gehörten uns. Selbstzweifel und Sorgen könnten uns später einholen. Jetzt wollten wir einfach nur genießen. Spanische Leichtigkeit, Sonne, der Beginn eines neuen Lebens.
Timothy war anders. In einer asiatischen Großstadt geboren, durchlief er ein strenges Schulsystem und wuchs in einer gutbürgerlichen Familie auf. Sein eigentlicher Name war Xao. Wie viele Asiaten, die ins Ausland gehen, nahm er einen westlichen Namen an, was ich nie verstand – Xao wäre leicht zu merken gewesen. Mit 18 nahm er an der großen Eignungsprüfung für Universitäten teil. Neun Stunden Prüfung über zwei Tage. Millionen Teilnehmer jedes Jahr. Timothy schaffte es in die Top fünf Prozent. Ein hervorragendes Ergebnis, aber nicht gut genug für die elitären Universitäten. Sein Leben war vorgezeichnet: fünf Jahre Studium, dann ein Job in einer Bank. Vielleicht hätte er sich eines Tages ein Haus kaufen können.
Im Marina Bay Sands, fahren wir mit dem Fahrstuhl ins Zimmer. Es ist großzügig. Schlichter Luxus, bodentiefe Fenster, große Vorhänge, Ausblick auf die futuristisch wirkenden 'Gardens by the Bay'. Gerade angekommen schlägt Timothy vor, zum Pool zu gehen. Im Bademantel machen wir uns auf den Weg.
Singapur liegt direkt am Äquator. Das Klima ist täglich gleich: 30 Grad, hohe Luftfeuchtigkeit und eine trübe Sonne. Im 146 Meter langen Pool tut die Abkühlung gut. Die Aussicht ist einmalig. Man sieht die ganze, moderne Stadt. „Drei Jahre muss ich noch hier wohnen, dann bin ich frei“, sagt Timothy, als wir am Beckenrand lehnen und in die Ferne schauen.
Timothy suchte einen Ausweg aus seinem einengenden Werdegang. Singapur war die Lösung. Er schrieb sich hier an einer weltweit führenden Universität ein, musste sich allerdings verpflichten, anschließend auch mindestens fünf Jahre zu bleiben. Nun arbeitete er in einer Bank.
„War es schwer, sich hier einzuleben?“ frage ich ihn, während wir in die Ferne schauen. „Am Anfang ja“, antwortet Timothy und nimmt einen Schluck von seinem eben geholten Bier. „Das Studium war intensiv und der Druck enorm. Aber ich wusste, dass ich dadurch eine Chance auf ein besseres Leben habe.“ „Und jetzt? Bist du glücklich hier?“ Timothy starrt ins Wasser, dann zu mir. „Ich weiß es nicht genau. Die Arbeit in der Bank ist anspruchsvoll, aber manchmal auch ermüdend. Die Gehaltserhöhung, die ich gerade bekommen habe, bezahlt die drei Nächte, die wir uns jetzt gönnen. Es ist seltsam, aber ich habe gelernt, kleine Siege zu feiern. Diese Nächte hier, mit dir, das fühlt sich an, als wäre ich für einen Moment ganz bei mir. Ganz frei.“ Er zeigt auf ein Gebäude in der Ferne und streckt seinen Mittelfinger aus. „Da arbeiten meine schweinischen Kollegen. Ich hab mich heute krank gemeldet. Sollen die doch alle arbeiten bis zum Verrecken.“ Ich lache und staune wieder einmal über Timothy. „Lass uns hier nun eine richtig gute Zeit zusammen haben", sage ich und wir stoßen an.
Im Pool lehne ich mich zurück und beobachte, wie Timothy seine Bahnen zieht. Plötzlich überkommt mich die Erinnerung an jene Nacht in Barcelona. Luigi und ich, jung und unbeschwert, tranken San Miguel, tanzten zu spanischem Reggaeton, lachten und lebten im Moment. Diese unbeschwerte Leichtigkeit, die man nur in den frühen Zwanzigern kennt, schien grenzenlos. Timothy saß damals schüchtern mit einem Bier auf dem Sofa in der Ecke, hatte ein Lächeln auf den Lippen, aber eine Spur Sehnsucht in den Augen. Er wirkte unsicher, aber dennoch sympathisch, ein bisschen verloren in der Gruppe. Als ich ihn aufforderte mitzutanzen, zögerte er und lachte verlegen, er könne nicht tanzen. Doch als unser Lieblingssong spielte und die Stimmung ihren Höhepunkt erreichte, überzeugten wir ihn schließlich. Alle klatschten, und Timothy tanzte ausgelassen mit, seine Augen leuchteten, und er imitierte unsere Dance-Moves. Das war der Beginn einer Freundschaft, eine Verbindung, die trotz der Jahre und der Entfernung nie ganz verblasste.
Plötzlich werde ich aus meinen Gedanken gerissen, als um uns herum Hektik ausbricht. Hinter gut und gerne zwanzig Sicherheitsleuten erscheinen die beiden Staatsmänner auf dem Außendeck. Ich erkenne sie sofort von Bildern. Sie sehen genauso aus, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Ein hoher Offizieller, vielleicht der Hoteldirektor oder eine wichtige Persönlichkeit aus Singapur, führt sie herum und zeigt ihnen den Pool. Die Szene wirkt surreal. Trotz der drückenden Hitze und der hohen Luftfeuchtigkeit tragen die beiden Anzüge und Krawatten. Sie lachen und scherzen, wirken erstaunlich gelassen und normal.
Ein kurzer Augenkontakt mit dem asiatischen Diktator ergibt sich. Er wirkt unerwartet sympathisch, wie ein ganz normaler Mann, lächelt mich an und nickt mir kurz zu. Ich nicke zurück, bin verwirrt und spüre eine unerwartete Wärme. Die Tolle des anderen weht leicht im Wind und sie gehen weiter.
Ich bin fasziniert und frage Timothy, was wir da gerade erlebt haben. Mit einem trockenen Lachen resümiert er, dass beide genauso fett sind, wie er es sich vorgestellt hatte. „Es ist einfach absurd“, fügt er hinzu, „dass solche alten, degenerierten Männer die Welt beherrschen.“ Seine Worte hängen in der Luft, während ich versuche, das Gesehene zu verarbeiten. Die Absurdität des Moments vermischt sich mit der drückenden Realität unserer Welt.
Wir bleiben noch eine Weile im Wasser. Dann gehen wir zur Poolbar. Wie damals in Barcelona bestellt Timothy seinen Lieblingsdrink: 'Piña Colada'. Ich war nie ein großer Fan dieses Cocktails, aber er ist okay. Ein Funke Andenken wertet jeden Drink auf.
In Barcelona wurden Luigi, Timothy und ich unzertrennlich. Fast jeden Abend verbrachten wir zusammen und erlebten unzählige Abenteuer. Luigi verliebte sich in eine Dänin, die er später heiratete. Ich verlor mein Herz an eine bildhübsche Russin, die mich schließlich für einen Fußballspieler des FC Barcelonas verließ. Ja, manchmal hat man einfach Pech im Leben, aber Luigi und Timothy halfen mir durch die schwere Zeit. Timothy fand langsam zu unserer Leichtigkeit. Nur manchmal überwältigten ihn seine Emotionen. Einmal gestand er, dass er sich im Vergleich zu uns hässlich fühlte und unsere großen Nasen und Augen beneidete. Er fühlte sich seit seiner Geburt diskriminiert, hatte keine Chance bei Frauen und noch nie einen Kuss erlebt. Wir trösteten ihn so gut wir konnten. Ein anderes Mal, bei einer Party in Barcelonas Sonne, saß Timothy mit offenem Hemd auf Luigis Schultern und zog an einem Joint. Hierfür hätte in einigen asiatischen Ländern die Todesstrafe gedroht. Für einen Moment schien er jedoch frei von allen Ängsten und Zwängen. Seine Augen strahlten vor Freude, als ob er die ganze Welt umarmen könnte. Diese seltenen Augenblicke des reinen Glücks erinnerten mich daran, dass Timothy trotz seiner inneren Kämpfe immer wieder einen Weg fand, das Leben zu genießen.
Die nächsten Tage in Singapur sind erfüllt von kulinarischen Erlebnissen, ausgelassener Stimmung und kulturellen Entdeckungen. Wir schlendern durch die geschäftigen Straßenmärkte, probieren exotische Speisen und lassen uns von der vielfältigen Küche verzaubern. Die Abende verbringen wir in angesagten Bars, genießen Martinis, Negronis und Musik, lassen uns von der Energie der Stadt mitreißen, aber jede Reise hat sein Ablaufdatum.
Nach drei fantastischen Tagen muss ich weiterziehen, bin am Gate des Flughafens und warte auf meinen Flug. Ich muss mich an das Lächeln des Diktators erinnern. War dieses Lächeln vielleicht ein Fenster zu einer verborgenen Menschlichkeit? Ich recherchiere, ob das Treffen der Staatsmänner etwas gebracht hat. In einem gemeinsamen Statement veröffentlichten beide Regierungen, es sei ein großer Erfolg gewesen. Es gäbe neue Sicherheitsgarantien und entschärfte Sanktionen. Eine Entnuklearisierung würde angestoßen werden. Einer twittert über den anderen „Große Persönlichkeit und sehr intelligent. Eine gute Kombination. Er ist ein würdiger Verhandlungsführer. Er verhandelt im Namen seines Volkes, ein sehr würdiger, sehr kluger Verhandlungsführer. Wir hatten einen großartigen Tag und haben viel übereinander und über unsere Länder gelernt.“ Ich wundere mich über diese Einigkeit und recherchiere weiter. Ein paar Monate vor dem Meeting war der Tonfall noch anders: „Sie sind ein Wahnsinniger, dem es nichts ausmacht, sein Volk verhungern zu lassen. Sie werden auf die Probe gestellt werden wie nie zuvor!“ Der andere reagierte damals: „Ihr gesamtes Staatsgebiet liegt in der Reichweite unserer Atomwaffen, und auf meinem Schreibtisch liegt immer ein Atomknopf. Das ist die Realität, keine Drohung.“ Beim Lesen schüttelte ich den Kopf. „Was sind das nur für Menschen, die uns regieren?" Timothy hatte recht mit seiner Einschätzung.
Fünf Jahre später sitze ich in einer Bar in Hamburg, als mich eine Nachricht von Timothy auf meinem Handy erreicht. "Ich muss dir etwas mitteilen. Es ist nur für die wichtigsten Menschen in meinem Leben, und es könnte sein, dass du mir danach die Freundschaft kündigst." Ich bin gleichermaßen verwundert und gespannt und schreibe: "Sag es einfach."
Nach zwei Minuten kommt die Antwort: "Ich bin schwul, lebe jetzt in Australien und habe einen Amerikaner geheiratet, der mir nach Australien gefolgt ist."
In meinen Gedanken bin ich zurück in Luigis WG. Der Abend startet. San Miguel aus Dosen. Spanische Musik. Timothy sitzt auf dem Sofa in der Ecke und lächelt in die Menge. „Du hast es endlich geschafft, mein Freund“, denke ich. Dann bestelle ich einen Piña Colada und stoße aus der Ferne auf ihn an.
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Cover Bild illustriert von Ninorta Lohkemper.
An einem heißen Freitagabend im September stand Sydney Schwarz im Bad ihrer neuen Wohnung in New York, als sie einen Anruf ihrer Mutter auf dem iPhone sah und ihn wegdrückte. Sydney wunderte sich. Schon der zweite Anruf von ihr heute, obwohl sie doch wusste, dass es an den Wochenenden immer stressig war. Für solche Anrufe war jetzt keine Zeit. In ein paar Stunden begann die Party eines angesagten Schauspielers, und ihr Outfit bereitete ihr noch Sorgen.
Ihre Follower bei Instagram hatten gerade 1,7 Millionen erreicht. Mittlerweile hatte sie ein gutes Einkommen, das es ihr ermöglichte, ein großes Loft in einem angesagten Neubau in Brooklyn zu kaufen.
Die Designerstühle für das Esszimmer, die normalerweise 2.500 Dollar pro Stück kosteten, erhielt sie im Tausch für einen Social-Media-Post. Zehn Stück wurden geliefert. Skandinavisch schlichtes Design, Holzbeine und Rückenlehne aus Kalbsleder. Es waren nicht die gemütlichsten Stühle, aber sie passten perfekt zum 650kg schweren Marmortisch, der rund in der Mitte des Raumes stand. Sydney musste extra mit der Baufirma des Hauses absprechen, ob sie den Tisch hier platzieren konnte, ohne Gefahr zu laufen, dass er irgendwann beim Nachbar in der 23. Etage durchbrach. „Bis zu zwei Tonnen sind in Ordnung, aber bitte nicht darauf tanzen“, hatte der Mann am Telefon gesagt. Sydney hatte nicht ans Tanzen gedacht.
Jetzt stand sie im Bad und föhnte die halblangen, blonden Haare. Ihre Großmutter nannte sie immer liebevoll ihren 'Goldengel'. In ihrem Social Media Profil bekam sie oft Fragen nach ihrem Shampoo. Dabei hatte sie immer nur nach Geruch entschieden. Bis sie 15 war, nutzte sie meist einfach das Shampoo ihres Vaters, das in der gemeinsamen Dusche im Elternbad stand und eigentlich für graue Haare war. Vor anderthalb Jahren hatte sie einen Vertrag mit einer Kosmetikfirma unterschrieben, dessen Flagship-Stores nur in den schönsten Städten der Welt standen und aussahen, als würde man dort normalerweise Yogakurse abhalten. Sie bekam nun einmal im Monat ein großes Paket mit Produkten. Die meisten verschenkte sie. Von dem neuen Hundeshampoo sollte sie einmal im Monat ein kurzes Video machen. Sie hatte das schon zweimal vergessen, weil sie fand, dass Louis, ihr Maltipoo, der meistens bei der Haushälterin schlief, bereits sauber genug war. Von ihrer Managerin gab es dafür ein paar böse Anrufe. Sie verstand das nicht. Durch den schnellen Followeranstieg hatte Louis der Firma ohnehin schon viel mehr Sichtbarkeit als geplant gebracht.
Sydney sah in den Spiegel und seufzte. Aus ihrer linken Achselhöhle blutete es schon wieder ein wenig. Vor einem Monat hatte sie ihre Brüste axillär von einem B-auf ein D-Körbchen vergrößern lassen. Pralle Tropfenform. Sie wollte unbedingt eine Narbe unter der Brust vermeiden, da sie auf ihren Bikinibildern gelegentlich die Unterseite der Brust hervorblitzen ließ und auch über einen Account auf einer nicht jugendfreien Seite nachdachte. Ihre enge Freundin Tiffany hatte allein mit Nacktbildern innerhalb eines halben Jahres fast zwei Millionen Dollar verdient und sich eine noch bessere Wohnung in Williamsburg, mit direktem Blick auf die Brooklyn Bridge und den Hudson River gekauft. Heute sollte der erste Tag sein, an dem sie wieder schulterfrei auftreten konnte. Ihr Dekolleté würde alle anderen Models neidisch machen.
Nun schaute Sydney auf ihre neue Rolex mit türkisem Zifferblatt. Die Zeit bis zur Party raste und da war es wieder: dieses flaue Gefühl im Magen, dass ihr den Anschein gab, immer noch getrieben zu sein. Ein leichter Schweißfilm bildete sich auf ihrer Stirn. Sie wollte zwar nicht pünktlich kommen, aber auch nicht viel zu spät. Bei solchen Partys gab es keinen roten Teppich, aber es warteten immer ein paar Paparazzi auf den Bürgersteigen und es war die beste Publicity, wenn man auf Fotos so abgelichtet wurde, als wäre es ungewollt.
Sydney kämmte ihr seidiges Haar. Es sah gut aus. Sie schaute auf ihren Bauch. Alle Bauchmuskeln und Rippen waren deutlich zu erkennen waren. Sie lächelte. Das Personal Training hatte gewirkt. Nur ihren Po fand sie noch zu flach. Dafür waren die Brüste nun wirklich perfekt.
Nach dem Schminken wurde sie wieder wütend. Ihr bester Freund, und mittlerweile Assistent, George, mit dem sie Mode an einer angesagten Privatuni studiert hatte, hatte es nicht geschafft ihr ein neues Kleid zu organisieren. Sie entschied sich deshalb für einen eher lässigen Look. Weite Jeans, beiges, ärmelloses Top – die Narbe hatte sie überschminkt. Nebenbei tippte sie auf ihrem Handy und antwortete auf Nachrichten. Plötzlich knackte es – der Nagel ihres Zeigefingers brach ab. Dann das nächste Desaster: Ihr Concealer glitt aus ihrer Hand und landete auf ihrem Top. Der Look war ruiniert. „George, hör zu“, rief sie energisch ins Handy, „Du bist für fünf Tage raus. Und vergiss die Party nächste Woche."
Dann ging sie hektisch zum Kleiderschrank und drei Kleider landeten auf dem Bett. Alle kosteten über eintausend Dollar:
Das hellblaue kurze, mit eingenähten weißen, klassischen Verzierungen, hatte sie letzten Sommer schon mal an, als sie auf dem Boot eines Techmillionärs in den Hamptons eingeladen war. Das Foto von ihr in seinem Arm war um die Welt gegangen. Er hatte doch schon seit 25 Jahren eine skandalfreie Ehe geführt.
Das rote Seidenkleid wäre mit schwarzen Heels perfekt gewesen, aber sie hatte von ihren Lieblingsheels gerade letztes Wochenende die Sohle abgebrochen.
Es blieb eigentlich nur noch das Gelbe, das ihr eine große Modekette gesendet hatte, ihr aber nie wirklich gefallen hatte.
Sydney fiel aufs Bett. Sie schrie in das Kissen. Dann fing auch noch Louis an zu bellen. Sie hatte vergessen, ihn abzugeben. Wieder einmal Tränen. Das Make-up verschmierte. Sie dachte jetzt, dass ihr das alles zu viel werden würde und sie einfach gerne wieder 15 wäre und abends mit ihrer Großmutter erst Backen und danach 'Wer wird Millionär' schauen würde.
Wieder klingelte das Telefon. Ohne hinzusehen, drückte sie weg und weinte hemmungslos. Nach einer Weile der Hilflosigkeit sprach sie sich Mut zu: „Du bist privilegiert, und letztlich wird es dir heute Spaß machen. Bald wird alles entspannter.“ Sie überlegte, heute das Koks wegzulassen, um die morgigen Depressionen zu vermeiden.
Als sie sich gerade neu geschminkt hatte, nochmal das Handy. Wieder ihre Mutter. Diesmal nahm sie widerwillig ab. „Sydney, Schatz, ich muss dir etwas sagen“. Sie konnte die Stimme ihrer Mutter zittern hören. „Es ist wirklich Lungenkrebs bei Papa. Die Ärzte sagen, dass er Weihnachten wahrscheinlich nicht mehr erlebt“. Das Telefon fiel aus ihrer Hand. Das Display sprang. Sie hob es auf, zögerte kurz und sagte: „Mama, mein Handy ist kaputt. Ich kann dich kaum hören, aber ich melde mich morgen früh.“ Dann legte sie auf.
Sydney beschloss, sich am nächsten Tag wirklich zu ändern, aber dieses Event, dachte sie, konnte sie nicht verpassen. Sie ging zum Schrank und zog einen leichten, schwarzen Rollkragenpullover heraus. Ihr Vater hatte ihn ihr vor zwei Jahren geschenkt. Auf den Ärmeln waren die Initialen ihrer Eltern eingestickt – ein stilles Versprechen von Zusammenhalt. Sie hielt den Pullover einen Moment lang fest, spürte den weichen Stoff zwischen ihren Fingern und dachte dabei an ihren Vater.
Würde er verstehen, dass sie jetzt zu dieser Party ging? Sie hoffte es. Vielleicht würden ihre Eltern noch ein Bild der Paparazzi von ihr sehen, lächelnd, stark. Ein letztes Mal holte sie tief Luft, schloss die Augen und flüsterte: „Für euch.“
Dann zog sie den Pullover über, spürte die vertraute Wärme, die jetzt wie eine Umarmung wirkte, und trat hinaus in die Nacht, entschlossen, dem Leben entgegenzutreten, das sie sich aufgebaut hatte.
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Cover Bild illustriert von Jack Coulter.
Der jüngere Bruder unseres Italieners war talentierter Fußballer. Seine Zukunft war golden. Mit bereits siebzehn spielte er in der U19 Bundesliga und durfte stellenweise bei der ersten Mannschaft trainieren. Er spielte in der Jugend-Nationalmannschaft der Italiener und Jugend-Championsleague bei genau jenem Verein, den man bei uns in der Gegend so liebt. Der damalige, durchaus renommierte Trainer der Profis lobte ihn als pfeilschnell und technisch versiert. Wenn man so will, lebte er den Traum vieler Siebzehnjähriger.
Dann passierte es. Bei einem Testspiel verdrehte er sich so stark das Knie, dass das Wadenbein schief stand und im Zuge einiger OPs fast amputiert werden musste. Es war unklar, ob er jemals wieder Fußball spielen, geschweige denn sein Bein korrekt bewegen könne. Die Bilder der Verletzung gingen um die Welt. In Deutschland konnte man in vielen Zeitungen davon lesen. Die Anteilnahme war riesig. Ein brasilianischer Superstar sendete per Video Genesungswünsche. Auch italienische Legenden richteten sich an den Jungen. Das muss ihn ein wenig getröstet haben.
Mich nahm das mit, weil ich unseren Italiener schon länger kannte und er häufig stolz von seinem talentierten Bruder berichtete. Unser Italiener startete damals mit einer kleinen Pizzeria, die durch Qualität bestach und mittlerweile führte er das schönste Restaurant der Stadt. Er hatte eine Institution geschaffen. Gute und harte Arbeit zahlt sich aus.
Knapp einen Monat nach der Verletzung des kleinen Bruders haben wir wieder einen Tisch reserviert. Familientradition, wie so einige Freitage. Immer wenn man hierherkommt, begegnet man jemanden, den man kennt. Die Räumlichkeiten sind perfekt. Das Restaurant steht neben einer idyllischen Wiese auf Stelzen direkt am Ufer des heimischen Flusses. Nur ein Hauptsaal, von Boden tiefen Fenstern umringt, weitläufig, aber nicht überdimensioniert. Über uns das hohe alte Satteldach, wie in einer alten Scheune. Der Boden aus feinem Holzparkett und in der Mitte eine tolle Bar, hinter der sich der alte Pizzaofen befindet. Der Restaurantchef, ein echter Sizilianer natürlich, empfängt uns mit einem lockeren Spruch.
Als die ersten Getränke serviert sind, kommt unser Italiener zum Tisch und begrüßt uns auf seine liebevolle Art. Er ist gut gelaunt, war gerade im Heimaturlaub und berichtet von spannenden neuen Weinen auf der Karte, die er selbst bei den Gütern verköstigte. Wie immer unterhalten wir uns herzlich und lachen. Dabei merke ich jedoch, dass die Tragödie seines Bruders unausgesprochen, wie ein grauer Schleier, zwischen uns hängt. Trotz der guten Stimmung macht sich in meinem Magen ein flaues Gefühl breit. Obwohl ich gelernt habe, dass es besser ist, solch heikle Themen anzusprechen, statt sie zu meiden, gelingt es mir nicht. Wahrscheinlich ist es eine Angst, diesen friedvollen und stets gut gesinnten Menschen traurig zu erleben.
Schließlich ist es mein Vater, der in solchen Momenten oft ein besonders emphatisches Feingefühl hat, der die passenden Worte findet.
Als unser Italiener dann wirklich, ohne zu zögern, offen seine Gedanken ausführt, hat er das gleiche Strahlen in seinen Augen, dass er immer hatte, wenn er über seinen Bruder sprach. Nur seine Schultern hängen tiefer und auch seine Stimme ist gelegt und monoton.
Er resümiert, dass dies alles wirklich ein harter Schlag sei und die ganze Familie beteiligt ist, den Jungen wieder aufzubauen. Er selbst würde ihn zweimal die Woche zur Reha fahren. Wir erkundigen uns nach den Heilungschancen. „Das sieht nicht besonders gut aus. Offen gestanden hat nur er selbst noch Hoffnung. Vielleicht bewirkt das ja noch Wunder. Aktuell kann er kaum seine Zehen bewegen. Es wird mindestens noch ein Jahr, wenn nicht länger, dauern, bis er überhaupt wieder auf den Platz kann.“ Er erklärt noch mehr Details zur Diagnose und wie spezialisierte Ärzte die Reha unterstützen. Auch habe der Verein aus Rücksicht noch ein weiteres Jahr den Vertrag verlängert, damit die optimale Versorgung gewährleistet werden würde. Irgendwann würde die Zeit aber ablaufen.
Wir sind bestürzt. Damit hatten wir nicht gerechnet. Die Details deuten auf erschreckend geringe Comeback-Chancen hin. Es ist grausam zu hören, wenn ein Traum eines jungen Menschen kurz vor der Zielgeraden zerplatzt.
Nachdem es nun wirklich schwer wird, die richtigen Worte zu finden und eine kurze Stille einzieht, fängt unser Italiener plötzlich an zu grinsen, hebt seine Schultern, schlägt kurz in die Hände und sagt: „Na ja, so ist das eben. Wenn das nichts wird, dann wird er eben Pizzabäcker. So wie sein Bruder.“ Noch immer leuchten seine Augen.
Dann dreht er ab, geht hinter die Bar und zapft eine neue Runde Getränke.
Mykonos. Damals wollten alle nur nach Mykonos. Man musste hin, oder zumindest auf einer der anderen angesagten griechischen Inseln Urlaub machen. Instagram war voll von Promis, Partys und den ikonischen weißen Dächern der kleinen Häuser auf den Inseln.
„Zu teuer, ein schlechtes Preis-Leistungs-Verhältnis und wahrscheinlich nicht die Aufregung wert“, war mein Resümee nach zwei Stunden Recherche zu Unterkünften und Flügen, während ich im kalten Februar den Sommerurlaub mit meiner Freundin plante. Wir brauchten ein anderes Ziel.
Es war ein Samstag im Juli. Wir waren voller Vorfreude. Endlich saßen wir im Auto und fuhren zum Kölner Flughafen. Plötzlich merkte ich, dass wir die Zeit falsch berechnet hatten. Statt der geplanten zweieinhalb Stunden bis zum Abflug blieben nur noch anderthalb. Mich überkam ein kalter Schweiß. Ich sah den Urlaub an uns vorbeiziehen. Wir hatten uns komischerweise beide vertan. Wahrscheinlich waren wir einfach zu nervös. Es war unsere erste gemeinsame Fernreise.
Unser Ziel kannte ich bisher nur von einer wundersamen und berühmten Legende: der Blauen Mauritius. Als Kind hatte mein Vater mich für Briefmarken begeistert. Damals hatte ich nicht damit gerechnet, jemals auf dieser Insel zu landen. Mauritius liegt circa zweitausend Kilometer östlich der Küste von Mosambik im Indischen Ozean. Die Luftlinie überquert erst Madagaskar, dann folgt lange nichts, bis schließlich, ganz im Osten, der kleine Inselstaat in sonderbarer Einsamkeit liegt.
Der knapp neunstündige Flug war pünktlich, ruhig – und irgendwie romantisch. Es war eine ganz normale Maschine, wie sie auch auf europäischen Linienflügen eingesetzt wird. Ich habe immer das vertraute Gefühl genossen, wenn meine Freundin mit ihrem Kopf, gelehnt an meiner Schulter, schlief. Sie schlief lange und ruhig.
Etwa zur Hälfte des Fluges vertiefe ich mich in meinen Reiseführer. Millionen Jahre blieb Mauritius unberührt, bis vor etwas mehr als 500 Jahren die ersten Seefahrer Fuß setzten. Jahrzehnte später entdeckten die Niederländer die Insel und benannten sie nach ihrem Prinzen Maurits von Oranje. Fast ein Jahrhundert versuchten sie erfolglos, die Insel zu kolonialisieren, bevor andere Nationen um die Kontrolle kämpften. Seit 1968 herrscht Unabhängigkeit. Ich bin überrascht, als ich die Bevölkerungszahl sehe: Über eine Million Menschen leben hier. Das klingt nicht nach einem kleinen Inselstaat, der nur vom Tourismus und seinen weißen Stränden lebt. Nach der Reise verstehe ich besser. Hier ist ein multikultureller Staat entstanden. Hier leben Indomauritier, die den Hinduismus mitbrachten, Kreolen, Nachfahren der von den Franzosen aus Afrika verschleppten Sklaven, sowie Sinomauritier, deren Vorfahren aus China stammen. Irgendwie hat das alles eine ganz eigene, sympathische und friedliche Kultur hervorgebracht. Die stabile politische Lage zog viele ausländische Investoren an, was dem Staat eines der höchsten Pro-Kopf-Einkommen Afrikas einbrachte. Neben dem Tourismus gibt es hier ein etabliertes Bankwesen, eine Zuckerrohrindustrie und einen bedeutenden Textilsektor. Ich hatte Mauritius deutlich unterschätzt.
Nach einer langen Fahrt mit anderen Touristen durch unbekannte Straßen in einem Großraumtaxi erreichen wir endlich unser Hotel. Meine Freundin hat mich während der Fahrt ein paarmal bange angeschaut. Die ersten Stopps der anderen Gäste wirkten alles andere als paradiesisch. Unser Hotel ist anders. Eine lange Einfahrt aus Pflastersteinen, umrandet von kleinen Mauern mit bunten Pflanzen und tropischen Bäumen, führt zu einem großen Haupthaus, das mit dunklem Holz verkleidet ist. Wir werden mit einem Glas Sekt empfangen. Alles entspricht den fünf Sternen, die das Haus klassifiziert. Junge, haben wir hier ein Schnäppchen gemacht, denke ich. Mir fällt wieder ein, dass wir für die gesamte Reise nur ein Drittel der Kosten des Griechenlandtrips bezahlt haben. Man muss dazu wissen, dass die Jahreszeiten hier genau entgegen der europäischen laufen. Es war nun eigentlich Winter. Und was für einer: mit 25 Grad, weißem Strand, warmem Meer und einem nur zu 70 Prozent ausgelasteten Hotel.
Die nächsten Tage verlaufen idyllisch. Wir genießen die Hotelanlage, fahren Wasserski, machen zwei Tagesausflüge, sehen Krokodile, Riesenschildkröten, Flughunde, bunte Vögel, Lemuren und Affen, schauen uns einen Hindutempel in der Mitte der Insel an, machen Fotos an einem der schönsten Wasserfälle, die wir je gesehen hatten, freunden uns mit einem heimischen Taxifahrer an, der ein wenig Deutsch spricht und uns besondere Orte zeigt, lesen jeweils ein Buch, trinken nach dem Abendessen immer noch einen Sherry an der Hotelbar, haben Spaß miteinander, lachen und umarmen uns oft, lieben uns in unserem Zimmer und schlafen müde und zufrieden ein.
Es dauert eine Weile, aber an einem unserer letzten Abende wird mir klar, wie glücklich ich wirklich bin. Ich sitze auf der Terrasse unseres Zimmers, während sie sich im Bad fertig macht, und schaue auf das endlose, blaue Meer. Mein Leben erscheint mir auf einmal aus einem anderen Blickwinkel. Es fühlt sich an, als wäre die Zeit hier stehen geblieben, als sei diese Insel auf einem anderen Planeten und ich würde aus weiter Ferne auf alles schauen, was mich nach der Landung in Deutschland wieder erwartet. Ich werde ein wenig sentimental, aber nicht mit einer begleitenden Traurigkeit, sondern eher aus einem Rausch von Glück und Dankbarkeit. Ich bitte meine Freundin, vor dem Abendessen noch einmal mit mir zum Strand zu gehen. Wir legen uns auf eine große Liege und schauen uns Arm in Arm den Sonnenuntergang über dem Meer an. Die Sonne wird kurz bevor sie verschwunden ist so intensiv orange-rot, dass sie unserem Glück die perfekte Farbe gibt. Wir reden nicht viel. Ich glaube, in diesem Moment haben wir genau gleich gefühlt. Ich wusste schon als Kind, dass ich sehr stark lieben kann, und nun hatten wir wahrscheinlich das Limit erreicht.
Der Dodo ist das Wahrzeichen von Mauritius. Er hat in der Weltgeschichte wenig Beachtung gefunden, bis er 1865 in Lewis Carrolls Alice im Wunderland auftrat. Ein großer, schwerer Vogel mit langem Schnabel, der viel zu kleine Flügel hatte, um damit fliegen zu können. Sympathisch, komisch, nett. Kein Wunder, dass er auf diesem schönen Platz Erde, weitab vom Trubel der Menschheit, seine Heimat fand. Er lebte hier lange und endemisch. Es gab ihn ausschließlich hier. So wie Eisbären an den Nordpol gekommen sind, ist der Dodo nach Mauritius gekommen: aus Zufall und Schöpfung. Ich frage mich, ob dieser Ort für ihn ein ähnliches Paradies war wie für uns. Im La Vanille Park im Süden von Mauritius gibt es eine kleine, schöne Ausstellung, die seine Geschichte erzählt. Man sagt hier, dass er bereits weniger als 100 Jahre nach seiner Entdeckung ausgestorben sei. Der Name komme vom alten portugiesischen Wort „doudo“, was so viel wie Narr oder Einfaltspinsel heißt. Doch der Dodo hatte hier keine Feinde. Erst als die Menschen Haustiere und Hunde mitbrachten, wurde er ein leichtes Opfer. Es muss auf die Einwanderer stupide gewirkt haben, dass er nicht vor der offensichtlichen Gefahr in Flucht aufbrach, sondern sich vom Tod ereilen ließ, wie jemand, der sich lieber erschießen lässt, als ein falsches Eingeständnis zu machen. Vielleicht wollte der Dodo einfach nicht akzeptieren, dass sein Paradies zerstört wurde, oder er konnte sich nicht vorstellen, dass es etwas Böses und Bedrohliches auf der Welt gab. Ich kann Lewis Carroll verstehen. Ich wünschte, irgendwo auf der Welt würde auf einer unentdeckten Insel noch immer eine Familie von Dodos leben.
Liebe äußert sich in vielen Hinsichten, doch für mich gab es immer ein ausschlaggebendes Indiz. Lag ich neben meiner Freundin, konnte ich unbekümmert und sorgenlos schlafen. Bei Liebespaaren gleichen sich Atmung und Herzschlag in der Nacht an. Für mich ist das, auf magische Weise, das schönste Wohlbefinden, das ich kenne.
So stark unsere Liebe war, waren diese Nächte leider nicht die Norm. Fast sechs Jahre lang führten wir eine Fernbeziehung und sahen uns nur wenige Tage im Monat. Um die Distanz zu überbrücken, telefonierten wir fast täglich bis spät in die Nacht, und zumindest fühlten wir uns durch den Hörer nah.
Auf dem Rückflug schliefen wir ruhig. Noch heute denke ich manchmal an die schöne Zeit auf Mauritius zurück. Unsere Liebe ging nicht fort, aber eines Tages funktionierte sie nicht mehr. Die Zeit blieb nicht stehen. Sie schritt im immergleichen Tempo voran. Es war schwer zu akzeptieren. Wie der Dodo mussten wir uns von unserem Paradies verabschieden.
Zu selten ist sie da,
trotzdem kann ich mich auf sie verlassen.
Meistens fern, manchmal so nah.
Verboten für immer – sie anzufassen.
Der Alltag oft trist und grau.
Höhen und Tiefen – Normalität.
Tief fallen kann ich nie,
denn am Ende des Tages höre ich sie.
Egal in welchem Bett ich mich befinde,
nichts anderes im Sinne,
als sie zu hören –
Deine Stimme.
Obwohl man den Wert von Optionen unterschätzt, gibt es eine bestimmte Menge, die den Gesamtwert wieder verringert. Wahrscheinlich ist das, wie alles in der Realität, sogar mathematisch erklärbar. Mit irgendeiner Formel, bei der exponentielles Wachstum auf einmal stoppt, abflacht und schließlich negativ wird.
Jedenfalls beobachtete ich, dass in manchen Bereichen im Leben eine Vielzahl von Alternativen hinderlich sein kann. Es führt dazu, dass man die eine, individuelle Wahl nicht mehr wertschätzt und ständig überlegt, ob es nicht doch etwas Besseres gibt. Es ist wie ein Ziehen im Inneren, das einen drängt. Man gibt sich nicht mit dem zufrieden, was man hat. Man glaubt, dass es noch mehr gibt. Man sucht, aber findet nicht. Es fühlt sich an wie ein Fluch meiner Generation. Doch lesen Sie selbst:
Münster, 1987. Vielleicht war es Freddie Mercury, vielleicht David Bowie. Mein Vater drehte die Musik auf, und meine Mutter, die unter ihm wohnte, kam, um sich zu beschweren. Er lud sie ein, hereinzukommen und mitzufeiern. Fünf Jahre später heirateten sie. Kurz darauf kam ich zur Welt.
Berlin, 2022. Wieder einmal scrolle ich durch die Dating-Apps. Die Gesichter flackern über den Bildschirm, eins nach dem anderen. Sie scheinen auf mich zu warten, als hätten sie nichts Besseres zu tun. Manchmal halte ich für einen kurzen Moment inne und denke: Wer bist du? Aber dann wische ich weiter. Links, rechts, links. Wieder und wieder. Von nichts kommt nichts. Das wusste schon Shakespeare. Fast 3,7 Millionen Menschen leben hier. Einmal habe ich mir den Spaß gemacht, das statistisch zu durchdenken. Das Ergebnis: Jede Woche tauchen über 100 Frauen in diesen Apps auf, die für mich infrage kommen könnten. In der größten Stadt Deutschlands ist das Angebot kein Problem. Beziehungen entstehen heute über das Handy. Algorithmen entscheiden, wer zusammenpasst. Ich swipe weiter und weiter. Das Strategische an meiner Herangehensweise ist ernüchternd, andererseits möchte ich eine feste Partnerin finden. Kinder zu haben, ist eines meiner größten Lebensziele – wenn nicht sogar das Wichtigste. Ich bin mittlerweile auch seit über einem Jahr auf dem Markt und hatte genügend Spaß im Berliner Single-Dschungel, der so verworren und vielschichtig scheint wie der Regenwald des Amazonas.
Das ständige Scrollen zwingt zur Oberflächlichkeit. Ich spüre keine Aufregung, keinen Nervenkitzel. Nur das monotone Klicken meiner Finger auf dem Glasdisplay. Ein mechanischer Prozess, als wäre ich ein Roboter, programmiert, um nach Mustern zu suchen. Aus Selbstironie – und weil es wirklich so ist – nenne ich das Ganze mittlerweile ein neues Batch. Die Auswahl und das anschließende Schreiben sind ermüdend und kräftezehrend, aber man quält sich durch. Hat man dann ein paar Matches, folgt immer derselbe Small Talk. „Hey, wie geht’s?“ „Wie war dein Wochenende?“
Ein Batch führt normalerweise zu drei bis fünf Dates. Davon sind meistens ein bis zwei gut. Ich atme ein, dann aus. Es startet Batch 8.
Zuerst treffe ich Josefine: 27 Jahre alt, 1,67 groß, braune Haare, ein schönes Lächeln, markante Gesichtszüge. Sie will spazieren gehen. Mir gefällt die Idee nicht. Solche Dates vermeide ich normalerweise. Ich glaube, ich bin einfach nicht der Typ dafür. Sehen Sie, man schaut sich nicht in die Augen, im Winter friert man, die Nase läuft, und man wandert ziellos durch die Straßen. Klingt das nach einem guten Kennenlernen? Trotzdem sage ich zu. Hinterher denke ich, dass ich zukünftig mehr auf meine Intuition hören sollte. Das Treffen verläuft zäh. Es gibt wenig Gemeinsamkeiten. Ich finde sie langweilig. Vielleicht empfindet sie dasselbe oder hält mich für arrogant. Wir trinken einen Kaffee. Dann verabschiede ich mich.
Am Donnerstag treffe ich Isabella, 25 Jahre alt, zwar kein herausstechendes Erscheinungsbild, aber ein schönes Lächeln, kulturell interessiert und kluge Fragen im Chat. Wir treffen uns in der Wohnzimmerbar in Prenzlauer Berg. Jerry, der gutaussehende Barkeeper und mittlerweile ein Freund, begrüßt mich mit einer Umarmung, weist uns einen Tisch zu und bringt nach dem ersten Drink einen Amaretto aufs Haus. Er trinkt selbst einen mit. Ihr gefällt das. Ich habe Jerry nie darum gebeten, aber er hat ein Gespür dafür, was bei ersten Dates wirkt. Sie lächelt. „Das ist also dein Ding. Wie viele Dates hast du hier pro Monat?“, fragt sie. Ich lache und sage, dass es nicht wenige, aber auch nicht allzu viele sind. Warum, weiß ich nicht, aber es kommt gut an. Die Stimmung verändert sich. Diese Bar macht etwas mit den Leuten. Die Luft ist wie magnetisch aufgeladen und die Anziehung überträgt sich auf die Gäste. Nicht nur an meinem Tisch, sondern überall. Es vergehen anderthalb Stunden. Wir flirten. Ich warte, bis es fast überkocht. Sie schaut auf meine Lippen. Unsere Blicke verhaken sich. Langsam rücken wir näher. Unsere Knie berühren sich schon eine ganze Weile. Dann ziehe ich sie zu mir und küsse sie. Sie erwidert es sofort und wird sehr sinnlich. Ein perfekter erster Kuss.
Ich finde, der erste Kuss ist immer der beste. Es fühlt sich an wie eine Explosion. Der Körper spannt sich an, der Puls schlägt schneller. Serotonin, Adrenalin, Endorphine – alles fließt. Warum treffe ich so viele Frauen? War die Richtige wirklich noch nicht dabei? Ist es die Übermenge an Optionen? Oder bin ich vielleicht süchtig nach ersten Küssen?
Als wir kurz innehalten, sind ihre Augen halb geschlossen. Sie streicht durch ihr Haar, dann streichelt sie meine Oberschenkel. Der zweite Kuss lässt nicht lange auf sich warten. Ich genieße es, doch irgendwann wird es unangenehm. Ich habe mich oft in Bars fremdgeschämt, wenn es am Nachbartisch zu hitzig wurde. Das will ich den jungen Studenten gegenüber nicht antun. „Lass uns den letzten Drink bei mir nehmen. Die Fahrt dauert nur zehn Minuten“, schlage ich ihr vor. Meine Wohnung macht einen speziellen ersten Eindruck auf Gäste. „Denk jetzt nicht, dass ich so eine bin“, sagt sie, als wir etwas später auf meinem Sofa angekommen sind und sie sich den Pullover auszieht.
In den letzten 14 Monaten habe ich fünf solcher Geschichten erlebt. Jede dieser Frauen sagte diesen Satz. Bin ich so einer, der aus Frauen so welche macht? Waren die Frauen doch gerade solche? Oder sagt man das heutzutage einfach so?
Wir schlafen miteinander. Die Nähe tut gut. Der erste Sex ist nicht wie der erste Kuss. Er ist selten perfekt. Man braucht Zeit, um sich aneinander zu gewöhnen, Vorlieben kennenzulernen, damit es wirklich gut wird. Gleichzeitig kann es aber auch sein, dass das eher ein Problem meiner Generation ist, in der man es noch nicht gewohnt ist, offen über Vorlieben und Bedürfnisse zu sprechen. Die Gen Z kommt mir hier fortschrittlicher vor. Woran liegt das wohl?
Andy Warhol sagte einmal, es gäbe zwei Arten von Menschen: Die, die Sex einfach genießen, und die, die sich dabei ununterbrochen Gedanken machen. Er zählte sich zu den Letzteren und rechtfertigte damit seine schlechte Performance. Ich kann Andy Warhol nicht zustimmen. Ich gehöre zu den Ersten, kenne die Gedanken aber auch. So gut der Kuss mit Isabella war, so durchschnittlich ist die Nacht. Sie scheint sehr glücklich und schmiegt sich immer wieder eng an. Ich liege da, spüre das Gewicht ihres Körpers und denke: Wer ist dieser Mensch neben mir? Jemand, den ich eben erst kennengelernt habe, jemand, der jetzt in meinem Bett liegt, so nah, dass es fast schmerzt. Ich kann nicht einschlafen. Ich spüre keine Gefühle. Ist man als Mann wirklich so programmiert, immer einen Drang zu haben, mit einer Frau zu schlafen, egal wie charakterlich interessant man sie findet? Jedenfalls ist die Spannung verschwunden. In den nächsten Tagen werde ich ihr sagen, dass wir uns nicht wiedersehen können. Für die Nacht und den Moment bin ich ihr trotzdem dankbar. Sie wird es nicht verstehen, und ich werde nicht in der Lage sein, es richtig zu erklären.
Die nächsten Tage bin ich frustriert und kurz davor, Batch 8 aufzugeben. An einem Abend um halb neun liege ich entspannt in der Badewanne und öffne doch noch einmal eine der Apps. Mit der Premiumversion sehe ich, wer mich geliked hat. Aktuell stehen 700 Likes aus. Man muss sich mal 700 Menschen auf einem Platz vorstellen. Ich hatte mir die Liste schon länger nicht mehr angeschaut. Nach kurzem Scrollen bemerke ich ein Profil, das mir bekannt vorkommt: Johanna, 28 Jahre alt, blond, auf einem Bild offensichtlich in einem TV-Studio. Ich erinnere mich: Sie ist die Influencerin, von der ich neulich gehört habe. Neugierig sehe ich mir ihr Instagram-Profil an: über eine Million Follower. Sie ist ziemlich bekannt. Eine Million Menschen, die ihre Bilder sehen, die ihren Alltag verfolgen. Was sind 700 dagegen? Ich denke darüber nach und fühle mich plötzlich sehr klein. Nebenbei flirten wir in der App. Recht schnell sendet sie mir ihre Handynummer und schlägt ein spontanes Treffen in einer Weinbar um die Ecke vor. Ich bestehe auf einen kurzen Videocall, um sicherzugehen, dass es kein Fake ist. Im Video wirkt sie nett und gut gelaunt. Dem Date steht nichts mehr im Weg.
Auf dem Weg zur Bar telefoniere ich mit meinem besten Freund. Er sagt, dass auch die berühmteste Influencerin nur ein Mensch – und ich ein richtig guter Typ sei. Er hat recht. Es beruhigt mich. Ich treffe sie vor der Bar, und wir setzen uns an einen kleinen Marmortisch. Die Gespräche laufen gut. Dann reden wir fast nur noch über die Arbeit. Sie möchte nur ein Glas Wein. Es ist auch schon spät. Wir reden darüber, uns noch einmal zu treffen. Ein Café in Charlottenburg, das ich beschrieben habe, weckte ihr Interesse.
Dann höre ich nichts mehr von ihr. Keine Antwort auf meine Nachrichten. Nichts. Sie ist einfach weg. Ghosting. Es gibt dafür keine Erklärung, und es bringt auch nichts, darüber nachzudenken. Man versucht es trotzdem. Was war der Grund? Hatte ich etwas Falsches gesagt? Oder etwas Falsches getan? Irgendwann hört man auf, sich diese Fragen zu stellen. Manchmal sehe ich ihre Bilder in den Social Networks und frage mich, warum, aber es spielt keine Rolle. Manche Menschen verschwinden aus deinem Leben, ohne etwas zu hinterlassen. So wie sie. Dieses Kapitel kann ich gut abschließen.
In den nächsten Tagen schreibe ich gelegentlich mit Luisa, 31, eloquent, gutaussehend, angehende Anwältin. Humorvoll und leicht provokant. Das reizt mich, diese Spannung zwischen uns. Ich denke, dass es mit ihr vielleicht klappen könnte und motiviere mich innerlich. Wir verabreden uns für Donnerstagabend. Um halb neun betritt sie pünktlich die Wohnzimmerbar. Ich sitze bereits am Tisch. Nach zwei Sätzen sagt sie, ich sei betrunken und hätte sicher schon fünf Mojitos intus. Ich bin etwas perplex, mag gar keine Mojitos. Ich versuche, sie zu beruhigen, es mit Humor zu nehmen, gehe zur Bar, kaufe uns Drinks, doch sie hört nicht auf. Die Bar sei ein Hipsterladen, sagt sie, und das Publikum unpassend für ein erstes Treffen. Ich würde lallen und hätte ein lächerliches Outfit an. Ich versuche, es einzuordnen, denke, dass sie innerlich verunsichert ist und gebe mir Mühe, die Kommentare wegzulachen. Ich nehme es nicht persönlich, widerspreche nicht und gehe nicht. Stattdessen denke ich an die netten Chats und hoffe, dass sie noch sympathischer wird. Das scheint sie nun leider nur noch mehr zu provozieren. Sie greift weiter an und beleidigt mich. Wieder bleibe ich ruhig und versuche, das Bier zu genießen. Mir wird klar, dass das eine Ausnahmesituation ist, und ich fange an, es innerlich mit Humor zu nehmen. Nach 40 Minuten Beleidigungen trifft sie schließlich einen wunden Punkt. Ich hätte kein Selbstvertrauen, sagt sie, sonst würde ich mir das hier nicht gefallen lassen. Ich lege meine Gelassenheit ab und beginne einen Monolog. Ich sage ihr, dass gerade sie unsicher sei und kein Selbstbewusstsein habe. Sonst würde sie nicht mit so einer Einstellung auf ein Date gehen. Ich schlage vor, dass wir den Ort wechseln, biete ihr noch eine letzte Chance, dass wir von null starten. Wir trinken noch ein Bier in einer anderen Bar. Es gibt nicht mehr viel zu sagen. Nach einer Weile erkläre ich, dass ich noch jemanden treffen muss. Sie nickt. Ich gehe. Auf dem Heimweg fühle ich mich schockiert, aber auch ein wenig amüsiert, weil ich mich frage, was ich hier gerade erlebt habe. Aber es ist vorbei, und ich hake es ab. Zwei Tage vergehen und plötzlich schreibt sie mir, fragt nach einem weiteren Treffen. Sie erzählt, dass sie ihrer Mutter von meinem Monolog berichtet hat. Die habe mir in allen Punkten recht gegeben. Ich fasse es nicht, aber lehne ohne zu zögern ab. Man kann nicht jedem helfen.
Dating in Berlin, 2022. Zwei Wochen sind vergangen, und Batch 8 ist endgültig abgeschlossen. Ich frage mich, was das alles eigentlich gebracht hat. Vier Frauen habe ich kennengelernt, mein Geldbeutel ist leichter, mein Gewissen schwerer. Ein Date war so kurz, dass es kaum in Erinnerung bleibt. Mit einer Frau habe ich geschlafen, vielleicht ihr Herz gebrochen – und wurde selbst zweimal nicht so behandelt, wie ich es mir gewünscht hätte. Jetzt reicht es mir erstmal. Batch 9 muss warten. Verstehen Sie mich nicht falsch: Es gibt sicher schöne Momente im Online-Dating, aber dieses Mal war es eben, wie es war.
Kurz darauf, an einem dieser schönen Spätsommerabende, liege ich auf meinem Sofa und schaue einen Film. Nicht an Dates zu denken, tut mir gerade gut. Plötzlich stört mich ein dumpfer, nervender Bass, der durch die Decke hallt. Ich hatte schon mitbekommen, dass die Wohnung über mir frei wurde, und versuche, mich zu entspannen. Es würde wohl bald aufhören. Um halb zwölf, als der Lärm immer lauter wird, gehe ich schließlich nach oben und klopfe an die Tür. Kurz darauf öffnet sie sich. Vor mir steht Alexandra. Sie ist etwas jünger als ich, hübsch auf eine eigene Art, mit einem Lächeln, das mehr andeutet, als es preisgibt. Ihr Blick hat etwas Geheimnisvolles, eine unergründliche Tiefe, die mich für einen Moment innehalten lässt. Ich vergesse kurz den Grund, warum ich vor der Tür stehe, lächle unwillkürlich zurück und schaue in ihre schönen Augen. Sie sagt fragend: „Ja?“ Ich schüttle mich kurz und ringe mir ein „Der Bass ist ziemlich laut“ ab. Ich ergänze: „Das ist zwar ein guter Song, aber nicht um diese Zeit.“ Sie lacht und sagt „Kein Problem, mache ich sofort aus“. Dann gibt sie mir ihre Nummer. „Schreib mir einfach, falls es noch einmal vorkommt.“ Ich bedanke mich, will schon gehen, aber sie hält mich zurück. „Wie lange wohnst du schon hier?“, fragt sie. Wir kommen tiefer ins Gespräch. Gerade als es richtig angenehm wird, taucht ein unsympathischer Typ hinter ihr auf. Ungepflegter Bart, Jogginghose. „Schatz, lass uns ins Bett gehen. Ich muss morgen früh raus.“
Es ist, wie es ist. Jedes Leben benötigt seine eigenen, wundersamen Zufälle. Die besten kann man nicht erzwingen.
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Cover Bild illustriert von Federico Leis.
Song "Orders of Operations" gewidmet von Jerôme Scheren (Scherry).
Ich war einmal auf einer Geschäftsreise in Orlando, Florida. Die Projektleiterin des Kunden hieß Christie und kam aus Texas. Ihr Akzent war rauchig. Sie war geschätzt 40 Jahre alt und knapp 1,60 groß. Im ersten Small Talk erzählte sie mir, dass sie gestern einen Alligator in ihrem Gartenteich zu Gast hatte. Ich erzählte von dem grausigen Wetter in Deutschland. Wir verstanden uns. Sie mochte es, dass ich da war.
Nach den ersten kleinen Projekterfolgen lud sie mich am vierten Tag zum Mittagessen ein. Wir gingen zum Parkplatz. Es war heiß, mein Hemd klebte sofort. Sie stieg in ein Auto, breiter als jeder Mercedes, den ich je gesehen hatte. Ich musste schmunzeln, dass diese kleine Frau solch ein riesiges Fahrzeug fuhr. Sie steuerte es gut durch die breiten, amerikanischen Straßen. Im Radio lief Country.
Nach knapp 10 Minuten gelangten wir an einen großen Parkplatz, der von Fast-Food-Restaurants und Cafés umringt war. Das Ziel war der neue Sandwichladen. Als wir in der Schlange standen und ich sah, was die Kunden auf ihren Tabletts hatten, erschrak ich. Die Sandwiches waren so lang wie mein Unterarm und so hoch, dass ich mir nicht vorstellen konnte dort hereinzubeißen. Fast alle Optionen inkludierten mehrere Käsesorten. Christie bestellte etwas mit Bacon. Ich nahm etwas mit Thunfisch. Als Beilage bekam Christie eine große Tüte Kartoffelchips. Der Kassierer fragte „any drinks for you, Madam?“. Christie entgegnete „I‘ll go with the Diet Coke today, healthy lunch“. Dabei drehte sie sich zu mir und lächelte mir zu.
Sie meinte das ernst und wollte mir mit diesem Lunch etwas Besonderes bieten. Schließlich füllte sie dann sicher einen Liter Cola Light zusammen mit Eiswürfeln in einen großen Plastikbecher.
Was bei einem Gefallen zählt, ist seine Aufrichtigkeit und dass er von Herzen kommt. Kulturelle Unterschiede können wunderbar sein. Sich gelegentlich eine andere Realität zu bauen, auch.
An einem eisigen Samstagabend im Februar treffen wir uns in einem schicken Restaurant in Berlin-Mitte, das so exklusiv ist, dass selbst die Luft arrogant wirkt. Bei unserer Ankunft erhalten wir die Anweisung, uns vorerst im Foyer zu gedulden. Das Restaurant gehört zu einem Hotel, das wiederum zu einem globalen Members-Club gehört. Nur ausgewählte Personen sind erwünscht. Man muss früh reservieren, um einen Tisch zu ergattern. Nach einer halben Ewigkeit wird uns einer der schlechtesten Tische zugewiesen. Wir protestieren, aber keine Chance. Der Laden ist zu beliebt. Als normaler Kunde ist man hier schon lange nicht mehr König. Man kann eher froh sein, überhaupt bedient zu werden. Meistens sieht man hier Prominente. Man kann sich die Nachbartische anschauen und fantasieren.
Weil wir uns mit unserem normal sterblichen Schicksal abgefunden haben, ist die Stimmung an unserem Tisch, trotz aller Widrigkeiten, gut. Die Männer bestellen Bier, die Frauen Espresso Martini. Neben uns stellen die Kellner, die klassische weiße Schürzen und rote Fliegen tragen, Tische zusammen. Eine große Tafel wird gedeckt. Es erscheint eine Jugendbande. Teure Jacken, Jogginghosen. Ein paradoxes Modestatement. Sie reden laut. Vielleicht planen sie eine Revolution, oder wählen die Pasta für den Hauptgang.
Dann kommt er - Gesichtstattoos, Mütze, eine Kette, die in der Dunkelheit leuchtet - der Anführer. Ihn umgibt eine Aura, die den Raum füllt. Die Gruppe verstummt. Wir spekulieren. Vielleicht ein südamerikanischer Drogenbaron. Oder ein Fußballstar. Oder beides. Die Kellner behandeln ihn zuvorkommend.
Ich gehe zum Herren WC. Gleichzeitig steht er auf und folgt. In der Kabine neben mir, zieht er sich irgendwas in die Nase. Danach verlässt er den Raum, ohne sich die Hände zu waschen. Ich schüttele den Kopf. Die Jugend von Heute? Manchmal ist das Leben ein Klischee.
Wir verlassen das Lokal. Ich frage einen aus der Gruppe "Was macht ihr hier?". Er sagt, sie seien "nur ein paar Freunde aus London". Sie lachen. Ich lache. Wir alle lachen. Sie stiegen in Limousinen. Groß, schwarz, wie in einem Spionagefilm.
Am nächsten Tag schickt eine Freundin einen Ausschnitt der Berliner Tageszeitung. „Schaut mal, das war doch der Typ von Gestern. Die waren vor dem Konzert noch zusammen essen“. „Oh mein Gott“, reagiert eine andere Freundin, „ich höre ständig die Musik von ihm, der ist bei der Gen-Z super angesagt, ein Megastar“.
Ich checke sein Social Media Profil – über 10 Millionen Follower. Er ist Rapper. Ein großer Teil seiner Berühmtheit beruht auf kurzen viralen Videos, die Kinder mit seiner Hitsingle drehen. Hört man die Melodie, geht sie tatsächlich schwer aus dem Kopf.
Nachts im Bett bin ich nachdenklich. Da sitz er wieder vor meinem bildlichen Auge, umgeben von seinen treuen Jüngern der Gen-Z. Er hat die Aura eines jungen Künstlers, der die Welt erobert – oder zumindest das Internet. Ich, Anfang 30, aufgewachsen in einer Zeit, in der "TikTok" noch das Geräusch einer Uhr war, fühle mich plötzlich wie ein alter Mann, der versucht, die Fernbedienung zu bedienen. Die nächste Generation ist angekommen, und sie ist anders. Sie hat ihre eigenen Regeln, ihre eigenen Werte, ihre eigene Kultur.
Wenn man lang genug in dieser Stadt unterwegs ist, lernt man zwangsläufig: sie ist ein Zuhause für Jedermann. Für junge Götter, und alte Besucher.
Ein Künstler einer noch älteren Generation, Herbert Grönemeyer, würde dazu sagen "Oh, es ist schon ok. Es tut gleichmäßig weh".
Kurz nach der Trennung mit meiner Ex lerne ich eine junge Frau kennen, die mir schon eine Weile bekannt war.
Wir treffen uns zum ersten Mal auf der örtlichen Kirmes, fahren zusammen Riesenrad. Sie stellt mir einen Freund vor. Wir trinken ein paar Bier in einer größeren Gruppe. Sogar mein Cousin aus Österreich ist an dem Abend da. Sie überrascht mich mit einer außerordentlich positiven Art. Dazu hat sie etwas sehr spezielles, spontanes, kreatives, fast verrücktes.
Wir gehen nochmals zu zweit über den Kirmesplatz. Irgendwann küssen wir uns. Danach gibt es ein paar Dates, die ausnahmslos gut sind. Leider studiert sie in einer anderen Stadt. Ich ziehe gerade nach Berlin. Obwohl fast alles passt, ergibt sich keine Beziehung.
Kurze Zeit später ist sie mit einem anderen zusammen. Relativ schnell folgt eine Verlobung. Ich bin überrascht. Zugegebenermaßen ärgere ich mich ein wenig.
Als ich im Sommer darauf im Golf von Biskaya am Strand von San Sebastián liege, den Atlantik rauschen höre und das Meersalz auf der Zunge schmecke, denke ich an sie und werde wehmütig.
Einer meiner Lieblingsautoren, Yung Pueblo, predigt die Kunst, ≪loszulassen≫. Als ich dazu an all die tollen Bücher von Ernest Hemingway, Ferdinand von Schirach und Haruki Murakami denke, erkenne ich es. Eine Geschichte kann kurz sein, aber dennoch gut.
Danach schließe ich die Augen, atme tief durch, richte mich auf, und sprinte in die Wellen.
Was ist heutzutage eigentlich normal?
Was wird in 6 Monaten unser "Normal" sein?
Wie findet man sich überhaupt noch zurecht?
In meinen Geschichten geht es nicht darum, etwas zu lernen,
sondern um das Leben in dieser Zeit.
... um die kleinen, wichtigen Dinge, die wir schnell vergessen.
... um das Sein und Zurechtfinden.
... um den lokalen Italiener, den wir ins Herz geschlossen haben.
... um die große Liebe, großes Glück und große Enttäuschungen.
... um Druck und trotzdem um Leichtigkeit.
Vielleicht ergibt das für Sie ein Gesamtbild. Jedenfalls danke ich Ihnen dafür, dass Sie hier lesen und wünsche viel Freude dabei.
Ich habe mal darüber nachgedacht was ich suche und ob ich eigentlich angekommen bin. Aber kann man das eigentlich noch?